Der soziale Kitt bröckelt

Pflegebeduerftig

Mehr als 2,5 Millionen Menschen sind pflegebedürftig. Modellrechnungen gehen davon aus, dass es bis 2030 in Deutschland sogar rund 3,4 Millionen sein werden. Sieben von zehn Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt. Die große Mehrheit von ihnen, zwei Drittel, werden ausschließlich durch Angehörige betreut. Kurzum: Pflegende Angehörige sind unverzichtbar für die Versorgung. Die Datenlage zur gesundheitlichen Situation der Pflegenden ist bisher jedoch dünn. Das Wissenschaftliche Institut der Techniker Krankenkasse (TK) hat daher in einer Studie mehr als 1.000 pflegende Angehörige zu Gesundheit und Befinden, Belastungen und Unterstützungsmöglichkeiten befragen lassen.

Die Ergebnisse zeigen: Die Pflege eines Angehörigen ist kräftezehrend und belastet die Gesundheit der Pflegenden. Sechs von zehn Befragten geben an, dass die Pflege sie viel von ihrer eigenen Kraft kostet – je höher die Pflegestufe, desto größer die Belastung. In Pflegestufe drei ist sie fast doppelt so groß wie in Stufe null. Ständig in Bereitschaft zu sein, strengt 55 Prozent der Befragten sehr an. Die Hälfte der Pflegenden fühlt sich oft körperlich erschöpft, gut ein Drittel hin- und hergerissen zwischen den Anforderungen der Pflege und denen der Umgebung, zum Beispiel Job oder Familie. Drei von zehn Befragten geben sogar an, die Pflegesituation greife die eigene Gesundheit an.

Kein Wunder, dass nur wenige Pflegende ihren Gesundheitszustand positiv einschätzen: Während bei einem Bevölkerungsquerschnitt sechs von zehn Befragten ihre Gesundheit als gut oder sehr gut beurteilen, ist dies bei den pflegenden Angehörigen nicht einmal die Hälfte (45 Prozent). Unter den Angehörigen, die den Pflegebedürftigen ganz allein betreuen, geben sogar nur etwas mehr als ein Drittel (36 Prozent) an, ihr Gesundheitszustand sei gut oder sehr gut. Immerhin: Jeder Vierte pflegt allein. Auch das ist ein Ergebnis der TK-Pflegestudie.

Über Umfang und Art der Pflege durch Angehörige liegen kaum konkrete Daten vor. Das hat auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinem aktuellen Gutachten festgestellt. „Genau das ist jedoch erst einmal die Grundlage für jedes weitere Handeln, nämlich die handelnden Personen konkret zu Ihrer Situation zu befragen. Hier wollen wir ansetzen“, erklärt Dr. Jens Baas, Vorsitzender des Vorstands der TK. „Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, die nicht nur besonders aktuell ist, sondern auch eine große Fallzahl umfasst.“ Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat insgesamt 1.007 Pflegende persönlich interviewt.

Die Studie hat auch nach den ausschlaggebenden Gründen, eine Pflegeaufgabe zu übernehmen, gefragt. Fast die Hälfte der Pflegenden antwortet mit Pflichtgefühl und Familienzusammenhalt. Die Studie zeigt jedoch auch, dass dieser soziale Kitt zunehmend bröckelt. Familiärer Zusammenhalt spielt umso weniger eine Rolle, desto jünger die Befragten sind. Während bei den Über-65-Jährigen insgesamt 61 Prozent familiäres Pflichtgefühl als Hauptgrund angeben, sind es bei den 50- bis 65-Jährigen nur noch 45, bei den 18- bis 49-Jährigen sogar nur noch 38 Prozent. „Das Pflegepotenzial von Familien wird kleiner“, so Baas. „Erwerbstätigkeit hat einen anderen Stellenwert als in der Babyboomer-Generation. Pflege in Vollzeit wird künftig kaum mehr möglich sein.“ Die moderne Arbeitswelt fordert Mobilität. Eltern und Kinder wohnen deutlich seltener am gleichen Ort. Einstellungen zum Thema Familie sind im Wandel, Single-Haushalte nehmen zu. Speziell in ländlichen Regionen erzeugt die Abwanderung Handlungsbedarf.

„Für die Zukunft müssen wir andere Antworten finden. Wir müssen Pflege anders als heute organisieren“, erklärt Baas. „Die informelle Pflege von Angehörigen ist künftig in diesem Umfang nicht mehr leistbar. Die Schwiegertochter als Pflegezentrum ist ein Auslaufmodell.“

Der Vorschlag der TK: ein träger- und sektorenübergreifendes Hilfs- und Betreuungsnetzwerk, das einen deutlichen Fokus auf die Zuhause-Versorgung legt. „Wir müssen die informellen Leistungen der Angehörigen in professionelle Netzwerke überführen und Angebote integrieren, die es auch jetzt schon gibt. Unsere Studie zeigt, dass gerade Unterstützungsleistungen der Pflegeversicherung zwar bekannt sind, aber trotzdem wenig genutzt werden“, so Baas.

Am stärksten nutzen die Pflegenden noch den ambulanten Pflegedienst: Fast 60 Prozent geben dies in der Forsa-Befragung an. Hingegen ist die Nachtpflege zwar bei drei Viertel der Pflegenden bekannt, wird aber trotzdem nur von sieben Prozent der Befragten genutzt. Mit Beratungsangeboten sind Pflegende insgesamt weniger vertraut. Nur die Hälfte kennt die Möglichkeit der individuellen Pflegeschulung zu Hause, nicht einmal 60 Prozent die Pflegekurse in der Gruppe. Dr. Jens Baas: „Hier sehe ich ganz klar einen Auftrag an uns als Kasse. Pflegende müssen gut informiert sein, insbesondere wenn sie ganz plötzlich in eine Pflegesituation kommen. Unsere Studie zeigt, dann sind sie deutlich belasteter als wenn sie mit der Zeit in die Pflegesituation hineinwachsen können. Als Kasse können wir unsere Versicherten hier durch einen Dschungel an Angeboten navigieren.“

Hintergrund Zahlreiche Verbesserungen im Bereich der häuslichen Pflege sollen pflegende Angehörige ab dem kommenden Jahr entlasten. Hintergrund ist das erste Pflegestärkungsgesetz. Im Zuge dessen soll auch der Pflegevorsorgefonds eingerichtet werden – mit dem Ziel, die Beiträge zur Pflegeversicherung auch dann stabil zu halten, wenn in 20 Jahren die Generation der Babyboomer ins typische Pflegealter kommt. Mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr soll in den Fonds fließen. Um das Reformvorhaben finanzieren zu können, wird der Beitragssatz ab dem 1. Januar um 0,3 Prozentpunkte steigen – und um weitere 0,2 ab 2017 im Rahmen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes, das einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsverfahren einführen will. Die bisherige Unterscheidung zwischen Pflegebedürftigen mit körperlichen Einschränkungen und Demenzkranken soll wegfallen.

 

Text und Bild: Techniker Krankenkasse

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