Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung auch in der Region inzwischen fast alltäglich anzutreffen
Das Thema „Kinderschutz“ gerät immer dann in den Mittelpunkt der Medien, wenn über einen besonders schockierenden Fall berichtet wird. Als Bürger des überschaubaren Mittelzentrums Siegen und der umliegenden Städte und Gemeinden glaubt man sich weit weg von solchen Themen, die in unserer Sicht der Welt nur in den wirklichen Großstädten vorkommen: Missbrauchte, misshandelte oder vernachlässigte Kinder, deren Fälle uns plakativ geschildert werden. Dass diese Annahme für uns in Siegen-Wittgenstein weit gefehlt ist, dies belegen die aktuellen Zahlen der Ärztlichen Beratungsstelle gegen Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung e.V. von 2016 recht deutlich. Im Rahmen der jährlichen Mitgliederversammlung stellte die hauptamtliche Mitarbeiterin Antje Maaß-Quast Ende Mai nun den Jahresbericht 2016 vor. Darin ist, leider muss man wohl sagen, eine weiter ansteigende Tendenz zu vermelden, wie die aktuellen Zahlen belegen.
Mit 139 gemeldeten Familien ist die Fallzahl, die die Beratungsstelle in 2016 begleitet hat, zum Vorjahr angestiegen. Dazu kommen 23 Anfragen von professionellen Helfern, die um Unterstützung bei der Bearbeitung einer Herausforderung in einem der drei kritischen Bereiche ersucht haben. Rund ¾ der betroffenen Familien lebten in der Stadt Siegen bzw. dem Kreis Siegen-Wittgenstein. Während bei den betroffenen Mädchen eine gewisse Gleichverteilung über alle Altersstufen vorherrschte, nehmen die Fallzahlen bei den Jungen mit zunehmendem Alter immer weiter ab, rund 2/3 aller Fälle betrafen Mädchen. Hinsichtlich des Vorstellungsgrundes betrug der Anteil der Misshandlungssyndrome rund 73 %, leider nahmen 2016 Anfragen aufgrund familiärer Probleme und häuslicher Gewalt ebenfalls deutlich zu auf über 10 %.
An der Siegener Kinderklinik arbeitet die Beratungsstelle seit Jahren eng mit den Fachkräften der Kinderschutzgruppe zusammen. Dank dieses Netzwerks, das zudem auch mit den entsprechenden Stellen bei der Stadt Siegen und dem Kreis Siegen-Wittgenstein sowie dem Kinderschutzbund kooperiert, gibt es bereits seit vielen Jahrzehnten einen verlässlichen und kompetenten Baustein im Bereich des Kinderschutzes.
Egal mit welchem Problem Menschen bei Frau Maaß-Quast und ihren Kolleginnen und Kollegen vorstellig werden, klar ist, dass bei jedem Schicksal dringend Hilfe nötig ist. „Dabei gilt immer der Leitspruch unserer hochspezialisierten Fachberatungsstelle: „Hilfe statt Strafe“, denn nur unter dieser Prämisse sehen wir auch zukünftig sichergestellt, dass beispielsweise betroffene Eltern weiterhin vorstellig werden und um Hilfe bitten“, appelliert Kinder- und Jugendlichentherapeutin Maaß-Quast an die Öffentlichkeit. Bei mehr als 16.000 Fällen von Kindesmisshandlung 2016 bundesweit ist allen engagierten Mitarbeitern und den rund 30 fördernden Mitgliedern des Vereins, der seinen Sitz seit über 25 Jahren an der Siegener Kinderklinik hat, aber auch klar: Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein.
Um das umfassende Beratungsangebot auch zukünftig in dem Umfang aufrechterhalten zu können, sucht der Verein weitere Fördermitglieder. Mit nur 40,00 Euro Mitgliedsbeitrag pro Jahr kann man die engagierte Arbeit unterstützen. Und dabei ist man in guter Gesellschaft, fördern doch die Stadt Siegen, der Kreis SiegenWittgenstein sowie der Landschaftsverband Westfalen-Lippe das einzigartige Hilfsangebot mit ihren Mitteln.
Weitere Informationen zur Beratungsstelle findet man unter www.drk-kinderklinik.de/klinikenambulante-einrichtungen/besondere-einrichtungen/aerztliche-beratungsstelle/ oder direkt am Telefon: 0271/2345240 bei Antje Maaß-Quast.
Weitere Informationen zum Thema aus öffentlichen Quellen:
Was sagen die Zahlen?
Gewalt gegen Kinder wird deutschlandweit in keiner einheitlichen Datei erfasst. Quellen mit unterschiedlichem Fokus – und zum Teil gravierend anderen Zahlen – sind zum einen beispielsweise die jährlichen Statistiken der Jugendhilfe und zum anderen die der Polizei. Das statistische Bundesamt veröffentlicht die Ergebnisse der Jugendhilfe über Verfahren zur Gefährdungseinschätzung.
Gefährdungseinschätzungen 2015
2015 sah das Jugendamt für fast 100.000 Kinder die Notwendigkeit, Hilfe zu leisten, um eingetretenen Schaden zu begrenzen oder künftigen zu vermeiden. In mehr als der Hälfte aller Fälle war das Wohl der Kinder akut oder latent gefährdet. Akute Kindswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung von Körper, Geist oder Seele des Kindes/Jugendlichen bereits eingetreten oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist und diese Situation von den Eltern nicht abgewendet wird/werden kann.
Die Polizei hingegen erfasst Fälle, die strafrechtlich relevant waren. Die Daten für 2016 sind bereits veröffentlicht, 16.300 Fälle wurden erfasst. Darunter sind 4.237 Opfer von Kindesmisshandlungen und 12.019 Fälle sexuellen Missbrauchs (Infografiken, Polizeiberatung). Hinzu kommen 140 Kinder, die Opfer eines versuchten oder vollendeten Tötungsdelikts wurden. (PKS 2016 – IMK-Bericht).
Große Dunkelziffer
Diese Zahlen rechtfertigen Anstrengungen des Gesetzgebers zur Begrenzung der Gefahr. Zumal die erfassten Fälle nur die Spitze des Eisberges darstellen. Die meisten bleiben im Dunkeln, selbst viele Kindstötungen: sei es weil die Leiche nie gefunden oder der Tod irrtümlicherweise auf einen plötzlichen Kindstot oder Unfall zurückgeführt wird.
Misshandlungs- und Missbrauchstäter stammen aus allen sozialen Schichten, es handelt sich um ein Alltags- und Gesellschaftsproblem. Auch Frauen sind Täter – gerade bei den Kleinsten.
Körperlich misshandelt wird vor allem im Nahbereich des jeweiligen Opfers. In 85 % der Fälle war das Kind mit dem Täter verwandt, in weiteren 4 % befreundet. Auch die Täter des sexuellen Missbrauchs stammen in etwa 40 % der Fälle aus der Familie oder dem Freundeskreis des Kindes (Infografiken, Polizeiberatung).
Quelle: DRK-Kinderklinik Siegen